Thomas
Glatz
Wer
ist Herr Domagk?
Gegenkulturelle Strategien / Künstlermythen aus dem Münchner Off
Für die Einleitung bräuchte ich ein Asterixheft. Aber H. hat nur „Asterix uff
Saarlännisch“ und „Auf geht´s zu de Got`n.“ Hat denn niemand sonst in der WG
Asterixe? Sonst könnte ich nämlich den Einleitungssatz- den, mit dem ellenlangen
Bart- transkribieren. Ganz München ist von Schickis, Landhausmode-Bewegten,
Freizeitpark-Ismen und Schnöseln besetzt. Ganz München? Nicht ganz. „Weil in
soone glääne Därfsche doo lääwe noch e paar schdolse (...), denne wo nidd beisekumme
is...“1 Sorry. Das Bayrisch vom Well Hans von den Biermösln ist auch nicht
zitierbarer:
„Oa Dorf mid de schneidigstn vo alle Schneidig´n (...) spreizt si ei, lasst si
net unterkriag`n.“2
Das Dorf wäre in unserem Falle die Künstlerkolonie in der Münchner Domagkstraße,
ein subkulturelles Biotop auf ehemaligem Kasernengelände, in dem sich von der
Münchner Kulturschickeria beinahe unbemerkt „Europas größte Künstlerkolonie
mit über 200 internationalen Künstlern“3 angesiedelt hat. So eine Art Tacheles,
das nicht im Lonely Planet steht. Ein Netzwerk informeller Kontakte ist entstanden.
Eigentlich ist die Domagkstraße eine dörfliche Insel zwischen Schrebergärten,
Nordfriedhof und Euroindustriepark. Wenn in Gallien die Römer oder die Wildschweine
kommen, weiß auch jeder sofort wo wann was wie los ist. Als Außenstehender
kennt man das Netzwerk Domagkdorf nicht, und verpasst ständig halblegale gute
Parties und Veranstaltungen. Der Fischhändler streitet mit dem Gemüsehändler
und der Hinkelsteinlieferant hat noch immer keine Frau. Die erste Jungle-DJane
Münchens ist beleidigt, dass man sie nicht gefragt hat, ob sie auf der Hausparty
auflegen möchte, und so gibt sie ihre Anlage dem Funkbassisten aus dem ersten
Stock nur, wenn dieser mit der Gendertheoretikerin und dem informellen Marienkäfermaler
von nebenan nächsten Samstag zum Wertstoffhof fährt und den neuen Putzplan
schreibt. Nächste Seite. Helden des Alltags (Der Schlaumeier mit dem Flügelhelm,
der Hinkelsteinlieferant, welcher als Kind mit dem Zaubertrank dem Himmel auf
den Kopf gefallen ist...).
D.z.B.
D. wohnt schon lange in der Domagkstadt. D. sammelt alte Staubsauger. D. hat
blaue Arbeitsoveralls an und trägt Tonsur unter seiner Strickmütze. Sein Kunstprofessor
glaubt an D.s Vision eines Amphibienfahrzeugs: einen Lkw, der auch schwimmen
kann. Um Geld zu verdienen macht D. Fahrzeugüberführungen, verhökert Lkws nach
Afghanistan und in andere komische Länder. Auf dem Gelände, auf dem D. an seinen
Lkws rumschraubt haben sich früher ganz viele Bauwagenbewohner illegal angesiedelt.
Die mussten dann weg. Einige haben sich mittlerweile wieder angesiedelt.
J.z.B.
J. ist schon älter. J. kommt aus Serbien. Früher war er Straßenmaler. Vor kurzem
hat er an der Münchner Akademie diplomiert. J. zeichnet wo er geht und steht.
Selbst in der U-Bahn kritzelt er mit aufgebrauchten, farbigen Eddings auf Notizzettel,
verwischt seine expressiven, gestischen Striche mit Spucke. Manchmal hat er
Stroh in seinen wirren Haaren, da er als Pferdepfleger jobbt. Einmal durfte
J. auf der Jahresausstellung der Münchner Akademie nicht mit ausstellen. Da
hat er seinen Plastik-Overall mit gestischem Strich-Crossover bemalt, eine
seiner hausgemachten Synthesizer-Kompositionen in einen tragbaren Kassettenrekorder
eingelegt und ist als wandelndes, nicht wegzukuratierendes Ausstellungsstück
durchs Haus gelaufen. J. macht auch Gedichte. Sehr gute, eigentümliche Gedichte.
Wenn ihm ein deutsches Wort nicht einfällt, verwendet er einfach das serbische.
J. wohnt nicht mehr im Domagkdorf. Seine Freundin ist abgedreht. Es kam zu
wüsten Streitereien mit den Mitbewohnern. Kleinkrieg, Ärger. L. sprach ein
Machtwort. Angeblich wohnt J. jetzt glücklich auf de Land.
Z.z.B.
Z. kam aus Chicago. Sie ist Dichterin. Obwohl sie kaum Deutsch konnte, hat
sie gleich ein Open-Mic auf dem Dorfplatz veranstaltet, den Bewohnern und vielen
Gästen allmonatlich ein Podium und eine Zuhörerschaft verschafft, Kontakte
zur Poetry-Slam-Fraktion geknüpft. Z. zog vom Bauwagen in ein Zimmer im Domagkdorf.
Ihr Deutsch wurde immer besser. Z. schreibt feministische, meist autobiografische
Gedichte. Ihre Gedichte wurden von ihrer Freundin, der späteren mehrfachen
Literaturpreisträgerin übersetzt. Das Open-Mic hat sich von einer Untergrundveranstaltung
zu einer angesagten Kulturveranstaltung gemausert und eine feste Musiker- und
Literaturszene an sich geschweißt. Z. gibt jetzt Englischkurse für Manager
und wird nach Holland ziehen. Der Liebe wegen. Dem Open Mic geht dann vielleicht
langsam die Luft aus.
S.z.B.
S. kommt aus Russland. Er gehört einer ethnischen Minderheit an, den Itenmen,
einem kleinen, vom Aussterben bedrohten Eskimovolk. S. studiert auch Kunst.
Aber statt die zweite Moderne zu feiern macht S. Holzskulpturen, die an überdimensionierte
Ethno-Walrosszähne erinnern. In Russland macht er ganz kleine Skulpturen, arbeitet
mit Lachshaut und mit Robbenknochen, weil es da, wo er lebt keine Bäume gibt.
Er hat das erste Lesebuch für seinen Stamm geschrieben, dafür erklärende Zeichnungen
angefertigt. Das gestalterische Know-how hat er sich an der Akademie geholt.
Wenn die Helden aus dem Dorf ein Comicheft mit punkigen Krakelcomix machen,
steuert S. ein illustriertes Märchen seines Stammes bei. Damit die Stammesmythen
nicht verloren gehen.4
D.,B. und die Schweine
D., der Staubsaugersammler hat sich auf dem Gelände im Münchner Norden mal
Hausschweine gehalten. Das Ordnungsamt hat sich beschwert. Es kam zu einem
Rechtsstreit. Die Schweine sollten weg. Die Helden aus Domagk beriefen sich
auf die Freiheit der Künste, bezogen sich auf William Wegman, Rosemarie Trockel
und andere, die Kunst mit Tieren gemacht haben. Ein Konzert für Schweine wurde
organisiert. Ein anerkannter Avantgardekomponist spielte ein Konzert für Schweine,
J. hat die Schweine mit seinem farbigen Strich-All-Over bemalt. B. hat an der
nahen, lauten Stadtautobahn Boxen aufgestellt, um das Grunzen aus dem Schweinekoben
für die vorbeifahrenden Autofahrer zu übertragen. Lärmbelästigungskunst für
Autobahnbenutzer. Die Schweine grunzen zurück. Half nichts. Die Schweine mussten
weg. B. macht skurrile Skulpturen aus Pappmaché. Hieronymus Bosch goes Geisterbahn.
Seine Dreads hat er sich abschneiden lassen und trägt jetzt Tonsur. Er hat
den Orden der Brüder und Schwestern zum festen Glauben gegründet und die Tonsur
als Avantgarde-Haarschnitt bei den Dorfbewohnern salonfähig gemacht. Er hat
sich, glaube ich, auch mal zum Gegenpapst ausrufen lassen. (Ein Kirchenhistoriker
aus Sulzbach-Rosenberg, dem ich davon erzählt habe, meinte erbost: „Das darf
er gar nicht!!!“).
L.z.B.
L. ist Mathematiker. Kein Künstler. Er wohnt auch im Domagkdorf, stellt Dorfbands
ins Internet, spielt bei der Dorffußballmannschaft. L. wollte mal wissen, wer
denn dieser Herr Domagk eigentlich war und ist versehentlich via Internet auf
eine Stadtratssitzungsseite geplumpst. Die Vergabe des Baugeländes Domagkstraße
33 für 2002 stand zur Diskussion. L. hat innerhalb eines Tages eine Demonstration
auf dem Marienplatz samt Rederecht organisiert. L. ist zum politischen Sprecher-Posten
des Zusammenschlusses der Kunstvereine gekommen wie die Jungfrau zum Kind.
L. hat sich ein Rhetorikbuch gekauft. Bands aus der Domagkstraße haben auf
dem Marienplatz gespielt. Der Nida-Rümelin hat in der Stadtratssitzung die
Wichtigkeit einer Kulturoase für die Stadt München erklärt. Auf den nächsten „Tagen
der offenen Ateliers“ hat L. eine Podiumsdiskussion mit Stadtplanern, Kunstakademierektoren,
einem MdB und vielen Wichtigen organisiert.
Der Aufbaustudiengang Architektur der Akademie mischte sich nach einem Workshop „Perspektive
Domagk“ in den städtebaulichen Ideenwettbewerb, der „die Entwicklung einer
verdichteten Wohnbebauung vorsieht“ um mit einer „Strategie des Überlebens
einen Teil der Lebendigkeit und Vielschichtigkeit des Viertels zu bewahren.“5
In der Süddeutschen schrieb einer: „Ernst nimmt man die Vorschläge der Arbeitsgruppe
bei der Stadtverwaltung nicht. Die Pläne seien lediglich „interessante Visionen“,
die sich „in der Form“ nicht rentieren, erklärt das Planungsreferat.“6 Die
Architekturklasse will trotzdem am städtebaulichen Wettbewerb teilnehmen. Sind
D., S.,L.,Z... mit ihrem Gallisch am Ende? Kann U., der die Großveranstaltungen
organisiert, genug Latein? Oder C., der die Ex-Nazikaserne, die sich eigendynamisch
in ein kulturelles Biotop verwandelt hat, zu einem Denkmal erklärt? Oder P.,G.,
oder X. oder U.?
Was soll`n wir tun Batman?7 Die Römer haben seinerzeit 40 Alpenvölker ausgerottet.
Trotzdem würde man 2003 gerne ein Wildschwein schlachten und den Barden ruhig
stellen müssen.
Die Schweine grunzen zurück.
Dies schrieb ich vor gut zehn Jahren. Der Text erschien in der Literaturzeitschrift
SUBH Nr. 34 im Themenheft „Subversion und Subkultur“ in Braunschweig. Die Zeitschrift
gibt es nicht mehr. Aus der SUBH entstand der Verlag Andreas Reiffer
Was ist aus den Galliern geworden?
2003 aßen sie Wildschwein, 2004 aßen sie Wildschwein, 2005 aßen sie Wildschwein,
2006 aßen sie Wildschwein, 2007 aßen sie Wildschwein, 2008 aßen sie Wildschwein
und 2009 wurde das große, neu sanierte Atelierhaus eingeweiht. Da gab es Prosecco.
Der Vergleich mit dem kleinen unbeugsamen Dorf der Gallier, den ich damals
gewählt habe, war zwar platt aber wirksam. Er wurde heuer sogar von der Münchner
Abendzeitung in einem Bericht über die Domagkkünstler benutzt. Dabei hinkt
der Vergleich wie der ehrbare Pirat in den Asterixcomix. Die vor zehn Jahren
von mir aufgeführten Hauptpersonen tauchen im neuen Asterixhardcoverband gar
nicht mehr auf. Gutemine ist Business-Englisch-Lehrerin in Rotterdam, der Fischhändler
ist Consultant in Bregenz. Troubadix hat einen Bio-Laden in Augsburg. Botanix
ist Kunsterzieher in Passau geworden. Methusalix heißt mittlerweile Methusalinda,
hat tizianrot gefärbte Haare, macht eine Clownausbildung und lebt auf einem
Frauenbauwagenplatz in Berlin. Idefix lebt in einem Tierheim in Springfield.
Von einigen weiß ich nicht, was sie gerade machen. Aber die meisten der Figuren
sind ins neue Atelierhaus gezogen. Allerdings auch andere Characters wie Isnogud
und Tunichtgut und Umpah-Pah. Ein pensionierter und ein bald Pensionierter
Professor von der Kunstakademie haben auch ihre Ateliers im neuen Haus. Die
können sich das gut leisten. Zwei Künstler aus Domagk sind mittlerweile zu
Professoren berufen worden. Einer in China, einer in Ungarn.
Bei jedem neuen Asterixheft hieß es, das sei aber das letzte. Und dann kommt
doch noch ein neues heraus. Um beim Asterix-Domagk-Vergleich zu bleiben: Das
2009-er Heft ist kein von Albert Uderzo liebevoll gestaltetes, neues Asterixheft
mit neuen Abenteuern sondern ein Sammelband für Asterixfans in teuerer Hardcoveraufmachung.
Wie kam es nun, dass das „unbeugsame Dorf“ heute noch besteht?
Aus der geplanten Cité des artistes ist leider nichts geworden. Zur Blütezeit
der Künstlerkolonie Domagkateliers waren hier 300 Künstler tätig. Im neuen
Atelierhaus ist nur für hundert Künstler Platz.
Das Selbstverwaltungs-Modell der Künstlerinnen und Künstler stieß schnell an
seine Grenzen, da das Geld für notwendige Instandsetzungen fehlte.
Dank des großen Engagements und Protests der betroffenen Künstler und Kunstverein,
allen voran der Interessengemeinschaft „Kunstvereine der ehemaligen Funkkaserne“,
setzte sich auch im Stadtrat langsam die Einsicht durch, dass eine Kulturstadt
wie München auf eine Künstlerkolonie nicht verzichten kann. Gerne denkt man
dort an die Kunststadt München, und stickt sich das abgehalfterte Thomas-Mann-Zitat „München
leuchtete“ aufs sanfte Kulturruhekissen. Vom Leuchten Münchens schrieb Herr
Mann vor gut hundert Jahren! Schon damals war das „München leuchtete“ ironisch
gemeint. Die Stadt lässt nun aber von Ortner und Ortner ein Areal von rund
1300 hochwertigen und familiengerechten Wohnungen bauen, eine Schallschutzbebauung
an der nahen Autobahn errichten, und will die Kleingartenanlage an der Domagkstraße erhalten.
Das Haus 50, das die Künstler als Atelierhaus bezogen haben ist zu nah an die
Autobahn gebaut. Da darf man gar keinen Neubau hinstellen. Ein kostengünstiger
Lärmschutzwall für die künftigen Bewohner des Geländes, könnte man spöttisch
behaupten. 2007 übernahm die Stadt München das Haus 50 als städtisches Eigentum
und begann es für rund 5 Mio. Euro zu sanieren und als städtisches Atelierhaus
durch das Kulturreferat zu betreiben.
Das Haus 49 gegenüber wird wahrscheinlich von den Künstlern mit Hilfe einer
alternativen Wohnbaugenossenschaft übernommen und bleibt dann auch stehen.
Alles andere wird abgerissen.
Das Künstlerhaus 50 ist das erste, auf dem Gelände fertig gestellte Gebäude.
Die Künstler haben nun endlich Zeit, sich ihren Werken zu widmen und werkeln,
schrauben, malen, komponieren und fotografieren fleißig. Sie müssen keine Zeit
mehr in Vorstandsitzungen, Mietbeiratssitzungen, Planungstreffen und Zukunft-Domgak-Sitzungen
investieren. Sie müssen nun nicht mehr fürchten, dass ihnen der Himmel auf
den Kopf fallen könnte. Jede Stadt und jede Gemeinde hat mittlerweile eine
Partnerstadt. Warum soll nicht das Domagkdorf, das nun nur mehr ein Haus ist,
das nun eigentlich ein Konzentrat einer Künstlerkolonie ist, nicht auch eine
bekommen? Jetzt haben die Künstler die Chance sich mit anderen Ateliergemeinschaften
und Künstlerhäusern in anderen Städten und Ländern zu vernetzen. Auf zu neuen
Abenteuern! Auf geht´s zu de Sachsen! |